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Willy Brandt, die Arbeiterpartei und die norwegische Außenpolitik in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

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Published under: Stoltenberg's 1st Government

Publisher: Ministry of Foreign Affairs

Außenminister Thorbjørn Jagland

Willy Brandt, die Arbeiterpartei und die norwegische Außenpolitik in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Willy-Brandt-Seminar des Goethe-Instituts, Oslo 26. Mai 2000

Sehr geehrter Herr Botschafter,

Meine Damen und Herren,

zunächst möchte ich dem Goethe-Institut und dem Norwegischen Nobel-Institut für die Initiative danken, mit Willy Brandt eine der bedeutendsten Personen der neueren europäischen Geschichte zu ehren.

Willy Brandt war, wie Sie wissen, nicht nur ein Politiker von historischem Format, er war auch ein Freund Norwegens und hatte als solcher ganz persönliche Beziehungen zu unserem Land. Lassen Sie mich diesen Aspekt kurz beleuchten.

Als junger Sozialist war Willy Brandt zu Beginn der Nazizeit gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Norwegen wurde seine neue Heimat, und er wurde bald in der norwegischen Arbeiterbewegung aktiv.

Brandts außergewöhnliche intellektuelle Begabung stand für alle, die mit ihm zu tun hatten, außer Zweifel. In sehr kurzer Zeit lernte er die norwegische Sprache und sprach sie akzentfrei bis zu seinem Tod.

Während seines Aufenthaltes in Norwegen kam Willy Brandt zu der Überzeugung, dass Freiheit und Sozialismus eng zusammengehören und dass die Sozialdemokraten mit demokratischen Mitteln auch gegen links- und rechtsextreme, undemokratische Gegner kämpfen können und müssen.

In der gesamten Nachkriegszeit hat die norwegische Bevölkerung Willy Brandt als einen der ihren betrachtet. Als einer der ihren spielte er eine zentrale Rolle in der europäischen Politik. Mit der Verleihung des Friedens-Nobelpreises 1971 in Oslo wurde er für seinen großen Einsatz geehrt. Er nahm den Preis in der Aula der Universität Oslo entgegen, wo er 37 Jahre zuvor immatrikuliert worden war.

Besonders für uns Sozialdemokraten war dies eine herausragende Begebenheit, dass einer der führenden Politiker der Gegenwart unsere Sprache beherrschte und sich durch ein inniges Verständnis der norwegischen Einstellungen und Auffassungen auszeichnete. Willy Brandts erheblicher Einfluss auf die Politik der Bundesrepublik Deutschland war ein weiterer wichtiger Grund dafür, dass wir ein immer stärkeres Vertrauen zur Bundesrepublik gewannen.

*****

Das politische Denken und Handeln Willy Brandts wurde besonders von zwei Ereignissen entscheidend geprägt: dem Zweiten Weltkrieg und dem Bau der Berliner Mauer.

In seinem Buch „Begegnungen und Einsichten" stellt er eine Beschreibung jener Augusttage 1961 an den Anfang, als die Mauer gebaut wurde. „Ich sah die Hindernisse, die man in den letzten Stunden herangeschleppt hatte und an denen nun mit deutscher Gründlichkeit weitergearbeitet wurde. (…) Ich sah einen Teil des großen Militäraufgebots – nicht der Russen, sondern der DDR –, das den Befehl hatte, den Übergang zu sperren. Ich sah in die leeren Augen der Landsleute, die drüben in Uniform ihren Dienst taten. Vor allem aber sah ich die besorgten und verzweifelten Blicke meiner Westberliner Mitbürger."

Am Sonntag, den 13. August, begann das Militär der DDR, Stacheldrahtsperren an der Sektorengrenze zu errichten, drei Tage später begann der eigentliche Bau der Mauer. Im Laufe dieser Tage versuchte Brandt, die Regierung in Bonn und die Alliierten zu einer Reaktion zu bewegen. Doch weder die Westmächte noch die Bundesregierung und auch nicht die Verantwortlichen in West-Berlin machten irgendwelche Verhandlungsvorschläge, die den Bau der Mauer vielleicht hätten verhindern können. Es dauerte zwei–drei Tage, bis die Westmächte überhaupt einen offiziellen Protest formuliert hatten. Im Nachhinein stellte Brandt selbst die Frage, ob die drei Tage vom 13. bis zum 16. August optimal genutzt wurden und ob man mit etwas gutem Willen, Phantasie und Flexibilität oder Härte einen anderen Verlauf hätte herbeiführen können.

Brandt beschreibt die Enttäuschung, dass er kein Wort von Adenauer hörte. Und er erzählt von Illusionen, die zusammenbrachen. Er schreibt: „In den folgenden Jahren sollten die Erfahrungen dieser Tage für meine politischen Überlegungen wesentliche Bedeutung haben. Was als meine ‚Ostpolitik‘ bezeichnet wurde, entstand vor diesem Hintergrund."

Als junger Mann war Willy Brandt zu Beginn der 30er Jahre Zeuge des Vormarsches der Nationalsozialisten in Deutschland. Er wuchs in Lübeck auf, und wie in anderen Städten nahm der Nazi-Terror nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 an Umfang zu.

Brandt war damals auf dem linken Flügel der deutschen Politik aktiv. Schon als 14-Jähriger war er den Jungsozialisten beigetreten, und drei Jahre später wurde er Mitglied der SPD. Dann folgte er der weiter links stehenden Sozialistischen Arbeiterpartei, als diese sich im Herbst 1931 von der Mutterpartei trennte.

Ich glaube, diese „Absplitterung" muss im Licht der damaligen Lage in Deutschland gesehen werden. Außerdem gibt es andere junge Menschen, die erfahren haben, wie leicht man von radikalen Tendenzen mitgerissen wird. Leider sind viele vom einen Extrem zum anderen übergewechselt. Nicht so jedoch Willy Brandt. Er kehrte zur Sozialdemokratie zurück und hatte große Sympathie für den pragmatischen Ansatz, der die politische Arbeit der skandinavischen Sozialdemokraten kennzeichnete.

In einem Vortrag vor der Osloer Arbeiterbewegung kam er hierauf zu sprechen. Er wies darauf hin, das unsere Schwesterparteien in Südeuropa sich sozialistische Parteien nennen: die Sozialistische Partei Frankreichs, Spaniens usw. In Skandinavien dagegen lautet die Bezeichnung Sozialdemokraten oder Arbeiterpartei. Das hört sich nicht so radikal an, doch es ist eine Tatsache – so Willy Brandt –, dass die skandinavischen Parteien mit ihrem Pragmatismus weit mehr erreicht haben als die Südeuropäer mit ihrem formalen Radikalismus.

1933 kam Willy Brandt als Kriegsflüchtling nach Norwegen. Wie wir alle wissen, hielt er sich in den Kriegsjahren in Norwegen und Schweden auf, und diese Jahre sollten seine Haltung zu Fragen der Europa- und Sicherheitspolitik entscheidend beeinflussen. In seinem Buch „Erinnerungen" schreibt er, er hätte schon 1943 erkannt, dass in der Nachkriegspolitik nicht der Hass, sondern der Wille zum gemeinsamen Wiederaufbau im Vordergrund stehen musste. Er sah es als seine Aufgabe an, nach 1945 ein Deutschland zu schaffen, vor dem man sich in Europa nicht zu fürchten brauchte. Ende 1946 wurde er als norwegischer Presseattaché nach Berlin entsandt, und dort interessierte er sich mehr und mehr für die deutsche Politik. Bald wurde er wieder Mitglied der SPD und konnte seine Eindrücke von der nordischen Sozialdemokratie weitergeben. Brandt wurde schon 1949 Bundestagsabgeordneter und 1957 als Nachfolger von Otto Suhr zum Regierenden Bürgermeister von West-Berlin gewählt. In dieser Position war Brandt bald ein Symbol für Frieden und Freiheit, statt Kaltem Krieg.

Wir wissen alle, wie es weiterging. Im Februar 1964 wurde Brandt als Nachfolger von Erich Ollenhauer zum Vorsitzenden der SPD gewählt. 1966 wurde er Außenminister der neuen großen Koalition mit Kurt-Georg Kiesinger (CDU) als Bundeskanzler. Und als Außenminister und später dann Bundeskanzler gestaltete Willy Brandt die neue Ostpolitik der Bundesregierung. Ihm ging es darum, dass die Versöhnung der Feinde nach 1945 auch zu einer Entspannung Richtung Osten führen musste, denn nur auf diese Weise ließen sich die Folgen der Teilung Deutschlands mildern und die Trennung von Ost und West eines Tages vielleicht aufheben.

Kiesinger und Brandt waren sich einig, dass die Beziehungen der Bundesrepublik zu den Staaten Osteuropas normalisiert werden mussten, und der Dialog kam während der dreijährigen Regierungszeit der großen Koalition in Gang.

Doch erst als Brandt selbst zum Bundeskanzler gewählt wurde, im Jahr 1969, waren sichtbare Ergebnisse des Dialogs zu erkennen. Die Bundesregierung nahm bald Verbindung zur Sowjetunion auf, um ein Gewaltverzichtsabkommen vorzubereiten. Die Christdemokraten protestierten heftig dagegen.

In den ersten Monaten des Jahres 1970 fanden mehrere Begegnungen von Andrej Gromyko, dem damaligen Außenminister der Sowjetunion, und Staatssekretär Egon Bahr statt, und Ende Mai wurde Einigkeit über einen Vertragstext erzielt. Außenminister Walter Scheel führte die Verhandlungen mit Gromyko weiter, und am 12. August konnte der Vertrag im Kreml unterzeichnet werden.

Die Hauptpunkte dieses Vertrages waren der Gewaltverzicht und die Unverletzlichkeit der Grenzen, unter anderem der Oder-Neisse-Linie, das heißt der Westgrenze Polens, und der Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Noch im gleichen Jahr wurde der Warschauer Vertrag paraphiert.

Im Dezember 1970 flog Willy Brandt nach Warschau, um diesen Vertrag zu unterzeichnen. In seinen Memoiren „Begegnungen und Einsichten" schreibt er, dass er sich – stellvertretend für seine Landsleute – „auf einen Prüfstand der Geschichte zu begeben hatte". Er beschreibt, wie der Weg in die polnische Hauptstadt die Erinnerung an sechs Millionen Tote wach rief. Nirgendwo hatten die Menschen so viel erdulden müssen wie in Polen.

Vor der Unterzeichnung des Vertrages sah das Programm zwei Kranzniederlegungen vor. Zunächst am Grabmal des Unbekannten Soldaten. Dort schrieb er in das ausliegende Gästebuch: „Im Gedenken an die Toten des Zweiten Weltkrieges und an die Opfer von Gewalt und Verrat, in der Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden und auf Solidarität zwischen den Völkern Europas."

Vor dem Denkmal für die im Warschauer Getto Umgekommenen kniete er nieder. Der vergebliche Aufstand der Bewohner dieses jüdischen Stadtteils im Jahr 1943 war ein heroischer Kampf, den die Welt kaum zur Kenntnis genommen hatte. Brandt schreibt in seinen „Erinnerungen": „Ich hatte mir … überlegt, dass es gelingen müsse, die Besonderheit des Gedenkens am Getto-Monument zum Ausdruck zu bringen. … Unter der Last der jüngsten deutschen Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Worte versagen." Ein Reporter notierte: „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können."

Ohne Zweifel muss der „Kniefall" von Warschau als das herausragende Symbol der Ostpolitik Willy Brandts bezeichnet werden, ein Symbol dafür, dass es ihm um Frieden und Versöhnung ging.

Brandt unternahm auch große Anstrengungen, um das Verhältnis zur DDR zu normalisieren. Er schlug Verhandlungen mit dem Ziel einer vertraglich geregelten Zusammenarbeit vor, und die Regierung der DDR ging hierauf ein. Das Viermächte-Abkommen von Berlin wurde im Herbst 1970 unterzeichnet und zwei Jahre später der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag.

1971 wurde Willy Brandt für seine Ostpolitik mit dem Friedens-Nobelpreis geehrt.

Mit der Entspannungspolitik gegenüber den osteuropäischen Staaten führte Brandt das weiter, was Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler nach dem Krieg begonnen hatte, der sich für die Aussöhnung mit Frankreich und die westeuropäische Integration eingesetzt hatte. Adenauer machte jedoch keine ernsthaften Versuche einer Versöhnungspolitik gegenüber der DDR und den anderen Staaten Osteuropas. Willy Brandt dagegen erkannte deutlich, dass eine Entspannung in Europa nur durch eine Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik zu den Nachbarn im Osten zu erreichen war.

Brandt hatte einen Leitgedanken: Die Sicherheit in Europa war unteilbar. Galt sie nicht für alle, galt sie für niemanden. In den ersten Jahren seiner Amtszeit als Kanzler sagte Brandt, dass die Außenpolitik seiner Regierung in erster Linie auf Europa ausgerichtet war. Dies bedeutete jedoch mehr als Westeuropa – er meinte Gesamteuropa.

Seine Rede anlässlich der Verleihung des Friedens-Nobelpreises in Oslo 1971 ist von einem roten Faden durchzogen: „Durch Europa kehrt Deutschland heim zu sich selbst und den aufbauenden Kräften seiner Geschichte. Unser Europa, aus der Erfahrung von Leiden und Scheitern geboren, ist der bindende Auftrag der Vernunft. Europa hat seine Zukunft noch nicht hinter sich."

Hierzu schreibt Brandt in seinen „Erinnerungen": „Wenn es irgendwo eine ungebrochene Kontinuität meines politischen Denkens und Tun gegeben hat, so auf diesem Gebiet."

Im Sommer 1975 fand in Helsinki die Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa statt, und damit ging eine weitere Vision Willy Brandts in Erfüllung. Er hatte bereits als Außenminister versucht, diese Konferenz zu ermöglichen. Die Frage einer europäischen Sicherheitskonferenz war schon früh ein Element des Ost-West-Dialogs, der sich Ende der 60er Jahre anbahnte. Die Schlussakte von Helsinki schuf auch die Grundlage für eine umfassende Zusammenarbeit zwischen Ost und West quer über die Blockgrenzen hinweg.

Damals waren schon längere Zeit Verhandlungen über die Abrüstung in Mitteleuropa im Gange, die jedoch keinen Erfolg zu haben schienen. Auch in Helsinki blieben viele Fragen offen, doch es begann sich eine Veränderung abzuzeichnen. „Europa war nicht mehr nur Nutznießer oder Leidtragender dessen, was im Großen zwischen West und Ost im Gange war. Der alte Kontinent begann, so zerrissen er war, sich selbst neu zu erkennen und das Weltgeschehen zu beeinflussen. So wurde weitergeführt, was Anfang der 70er Jahre mit der deutschen Ostpolitik begonnen hatte, schreibt Brandt in seinen „Erinnerungen".

Und trotz der Rückschläge in den Ost-West-Beziehungen in den 70er und 80er Jahren waren die Grundsätze der Schlussakte weiterhin ein tragendes Element bei der Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen und der Beziehungen zu den eigenen Bürgern. Der KSZE-Prozess erhielt damit große Bedeutung für die Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses, und die zentralen Grundsätze der Schlussakte bilden auch im Wesentlichen die Arbeitsgrundlage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Ich bin gerade von der Tagung der NATO-Außenminister in Florenz zurückgekehrt. Der wichtigste Punkt auf der Tagesordnung war die Entwicklung der europäischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Identität (ESDI). Es ist nicht meine Art zu sagen, wenn diese oder jene Person noch leben würde, dann hätte sie oder er hierzu folgende Meinung gehabt. Doch in diesem Fall bin ich mir sicher, dass man mit gutem Recht behaupten kann, Willy Brandt hätte diese Entwicklung begrüßt.

Die zunehmende Verantwortung der Europäischen Union für die Sicherheit des eigenen Kontinents ist eine Weiterführung der Linie, die Willy Brandt immer verfolgte: eine immer engere und stärker integrierte Zusammenarbeit in Europa.

Er hätte es auch begrüßt, dass in Florenz der NATO-Russland-Rat und der Euroatlantische Partnerschaftsrat zusammentraten. Die NATO hat mit 46 Staaten Partnerschaftsabkommen abgeschlossen. Der bisher letzte Staat im Bunde, seit gestern, ist Kroatien. All dies stellt einen historischen Wendepunkt in Europa dar, so wie es die Ostpolitik Willy Brandts Ende der 60er Jahre war.

Als Folge der Integrationspolitik von NATO und EU hat Westeuropa sich schrittweise vom Nationalismus abgewandt. Nun beginnt mit der Osterweiterung von EU und NATO ein vergleichbarer Prozess auch in Osteuropa.

Kroatien, das bisher von Nationalismus und ethnischen Gegensätzen gekennzeichnet war, hat mit der Wahl einer sozialdemokratischen Regierung einen neuen Kurs eingeschlagen. Dies wird sich hoffentlich positiv auf den gesamten Balkan auswirken.

Was mich als Vorsitzenden von Willy Brandts Partei in Norwegen und Außenminister betrifft, sehe ich meine Hauptaufgabe darin, dafür zu sorgen, dass Norwegen auf den historischen Prozess, der jetzt in Europa begonnen hat, positiv Einfluss nehmen kann. Unser Verhältnis zur Europäischen Union war zu sehr gekennzeichnet von negativen Vorstellungen und Problemen. Es gibt zwar einiges, womit man nicht einverstanden sein muss, dies ist ja auch in der norwegischen Gesellschaft der Fall. Doch das darf nicht unsere Verantwortung überschatten, zusammen mit den anderen europäischen Ländern dafür zu sorgen, dass die Tragödien der Vergangenheit sich nicht wiederholen.

Lassen Sie mich abschließend mein Bild von Willy Brandt in drei Punkten zusammenfassen.

Der erste Punkt ist seine konsequente ideologische Verankerung in der Sozialdemokratie. Immer wieder war es Willy Brandt ein Ärgernis, dass die Kommunisten ihre Zielsetzungen als den realen Sozialismus bezeichneten. Er meinte, dieser reale Sozialismus habe nichts mit dem eigentlichen Sozialismus zu tun. Und er warnte davor, die Sozialdemokratie als eine dem realen Sozialismus vergleichbare Variante des Sozialismus zu bezeichnen. Die Sozialdemokratie ist etwas grundlegend Anderes, meinte Willy Brandt.

Willy Brandt war der Antikommunist, der es als notwendig erachtete, mit den Ländern, in denen der Kommunismus vorherrschte, zusammenzuarbeiten.

Der zweite Punkt ist sein Herz für die sozialdemokratische Bewegung. Es ist typisch für ihn, dass er sich nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler weiter für die SPD und die internationale Sozialdemokratie einsetzte, letzteres als Präsident der Sozialistischen Internationale.

1989 beauftragte er mich, die nunmehr freien osteuropäischen Länder zu bereisen, um Kontakte zu sozialdemokratischen Gruppierungen zu knüpfen. „Wenn du nach Prag kommst, musst du darum bitten, dir das ‚Haus des Volkes‘ ansehen zu dürfen – ein großes, prachtvolles Gebäude, das die Kommunisten den Sozialdemokraten nach der Machtübernahme im Jahr 1948 wegnahmen. Es gehört unserer Bewegung", sagte Willy Brandt.

Ich fuhr dorthin, es stellte sich jedoch heraus, dass dort ein Lenin-Museum untergebracht war. Vor einem Monat wurde ich von der sozialdemokratischen Partei nach Prag eingeladen, um einen Vortrag über die Erweiterung der EU zu halten. Die Tagung fand im „Haus des Volkes" statt, das die Sozialdemokraten nach vielen Anstrengungen und Gerichtsverfahren zurückbekommen hatten. Ich glaube, dies hätte den Sozialdemokraten Willy Brandt ebenso gefreut wie mich.

Der dritte Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch Willy Brandts Leben zieht, ist seine globale Weitsicht.

Willy Brandt war Deutscher. Er war aber auch Norweger. Oder Italiener. Er war es, der aus der Sozialistischen Internationale als einer eurozentrischen Organisation eine globale Bewegung machte. Er war immer auf Reisen. Willy Brandt war ein kosmopolitischer Mensch im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Leben lässt sich mit folgenden Worten zusammenfassen: Die Menschenwürde muss für alle gelten, sonst gilt sie am Ende für niemanden. Dies war die Lehre aus der europäischen Geschichte zwischen den Weltkriegen. Daraus entwickelte er eine Politik der kollektiven Sicherheit. Deshalb sprach er sich dafür aus, Ressourcen für die Entwicklung der Dritten Welt statt für die Aufrüstung der Ersten Welt einzusetzen. Dies war die Essenz des Berichtes der Nord-Süd-Kommission, deren Vorsitzender er war: Sicherheit für alle. Menschenwürde für alle.

Kein anderer Politiker hat mehr für mich persönlich bedeutet als Willy Brandt. Ich hatte die Ehre, das einzige ständige Komitee der Sozialistischen Internationale 6 Jahre lang zu leiten, während Willy Brandt Präsident der SI war. Daher traf ich oft mit ihm zusammen. Vieles hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Als wir einmal auf das Thema des Widerstandes gegen die NATO bei den norwegischen Linken zu sprechen kamen, sagte er: „Wenn Norwegen das Recht haben soll, aus der NATO auszutreten und nationale Streitkräfte aufzustellen, wird Deutschland das Gleiche tun können."

Lange Zeit davor war ich persönlich zu der Überzeugung gekommen, dass eine erneute Nationalisierung der Verteidigungspolitik in Europa kein möglicher Weg war. Als Leiter der norwegischen Jungsozialisten begann ich, auf den NATO-Standpunkt unserer Jugendorganisation einzuwirken.

Willy Brandt war der Grund dafür, dass ich später zum Befürworter der Europäischen Union wurde und auch der norwegischen Mitgliedschaft positiv gegenüberstehe.

Eine erneute Nationalisierung der Politik in Europa hätte unüberschaubare Konsequenzen. Die Zukunft liegt genau im Entgegengesetzten. Alles, was nach Willy Brandts Tod geschehen ist, bestätigt seine politische Philosophie: kollektive Sicherheit und eine gemeinsame Zukunft.