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Die G-20 ist ein Rückschritt in der Zusammenarbeit

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Published under: Stoltenberg's 2nd Government

Publisher: Ministry of Foreign Affairs

Neue Zürcher Zeitung, 21 Mai 2010

Der Geist des Wiener Kongresses, wo grosse Mächte das Schicksal Europas bestimmten, hat keinen Platz mehr in der heutigen Staatenwelt. Dem Zusammenschluss der G-20 mangelt es an Legitimität, seine Zusammensetzung ist willkürlich. Veränderungen sind daher dringend nötig, schreibt Aussenminister Jonas Gahr Støre.

Der Geist des Wiener Kongresses, wo grosse Mächte das Schicksal Europas bestimmten, hat keinen Platz mehr in der heutigen Staatenwelt. Dem Zusammenschluss der G-20 mangelt es an Legitimität, seine Zusammensetzung ist willkürlich. Veränderungen sind daher dringend nötig.

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Obschon steigende Defizite und wachsende Arbeitslosigkeit reiche und arme Länder gleichermassen belasten, scheint es, als sei die schlimmste aller Finanzkrisen überstanden. Nun stellt sich die Frage, welche Strategien die internationale Gemeinschaft aufzeigen kann, um einen Weg aus der «grossen Rezession» zu finden. Diese Diskussion ist bereits im Gange und wird wohl am Gipfel der G-20 Ende Juni in Kanada und im November in Südkorea ihren Höhepunkt erreichen. Trotz ihrer führenden Rolle als Antwort auf die weltweite Finanz-, Wirtschafts- und Entwicklungskrise ist die selbsternannte «Gruppe der zwanzig» bezüglich internationalen Rechts und multilateraler Grundlagen ein Rückschritt – wohl einer der grössten Rückschritte seit dem Zweiten Weltkrieg, was die internationale Kooperation angeht. Anzeige

Keine gewählte Institution
Innerhalb relativ kurzer Zeit hat sich die G-20 als Forum für internationale Finanzfragen und wirtschaftliche Entscheidungsfindung durchgesetzt. Sie löste die G-7 sowie die G-8 ab und stellte internationale Organisationen wie die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds und die Vereinten Nationen in den Schatten. Mit jedem zusätzlichen Treffen stärkte die G-20 ihre Position als Hauptinstitution, was globale Zusammenarbeit, Regierungsführung und politische Bedeutung angeht. Es ging somit nicht (mehr) nur darum, das globale Finanzsystem zu retten.

Diese Entwicklung hatte ihre Vorteile. Die noch nie da gewesene Kooperation und Koordination der G-20 stabilisierte eine Weltwirtschaft, die sich zuvor wegen der Finanzkrise am Rande des Abgrunds befunden hatte. Aber jetzt, wo die schwerste aller Krisen langsam ausklingt, sollten sich die Mitgliedsländer der G-20 die Frage nach der eigenen Berechtigung stellen und sich auch um die Bedürfnisse jener Länder kümmern, auf die ihr Handeln Auswirkungen hat.

Wie kann die G-20 deutlich machen, dass sie die internationale Staatenwelt umfassender vertritt als ihre Vorgänger G-7 und G-8, zu denen allein Industrienationen gehörten? Bei der G-20 handelt es sich um keine gewählte Institution, es ist eine selbsternannte Gruppe, gegründet ohne Zustimmung der anderen Nationen. Die nordischen Staaten, so auch Norwegen, aber auch weitere Länder, die in der Vergangenheit viel zur internationalen Zusammenarbeit beigetragen haben, wurden von einer G-20-Mitgliedschaft ausgeschlossen. Länder mit niedrigen Einkommen sowie der afrikanische Kontinent sind ebenfalls nicht vertreten. Während die G-7 eine Gruppe der weltweit reichsten Ländern war, ist die Zusammensetzung der G-20 unklar. Leisten doch einige finanzstarke Nichtmitglieder, zu denen auch die skandinavischen Staaten gehören, einen wichtigen Beitrag an die Bretton-Woods-Institutionen. Diese Länder sind «systemrelevanter» und verfügen über ein grösseres Bruttoinlandprodukt als einige der G-20-Staaten.

Wie die Finanzkrise gezeigt hat, wäre es von Vorteil, über starke, kleine Nationen-Gruppen zu verfügen, die in der Lage sind, bei Bedarf schnell zu handeln. Damit die G-20 besser auf die Probleme reagieren kann, müsste die Organisation Folgendes beachten: Der erste und wichtigste Schritt wäre, dass G-20-Teilnehmer und die Nichtmitglieder über Formen der Zusammenarbeit beraten. Noch grundlegender wäre, wenn sich regionale Zusammenschlüsse bildeten, mit den G-20-Staaten als Kern. Solche Ländergruppen kennen wir bereits innerhalb des IMF und der Weltbank, beispielsweise bilden die nordischen und die baltischen Staaten eine Regionalgruppe. Dieses Modell wäre geeignet, die Schwächen des jetzigen G-20-Systems zu beheben.

Die Uhr nicht zurückstellen
Die globale Wirtschaft ist vor allem eines: global. Wir leben in einer vernetzen Welt, wo die ökonomischen Entscheidungen jedes einzelnen Landes Auswirkungen über die Landesgrenzen hinaus haben. Aktuelles Beispiel sind Griechenlands Schuldenprobleme. Eine reformierte G-20 würde stärker wahrgenommen werden, wenn sie Themen in ihre Agenda aufnähme, welche über die rein ökonomischen Interessen hinausgehen. Gesundheitspolitik, Entwicklung und die Klimaveränderung sind Themen mit ökonomischen und politischen Konsequenzen für alle Nationen. Und zwar auch für jene, die zurzeit nicht am Tisch der G-20 vertreten sind.

Im Interesse aller Länder müssen internationales Recht und die Legitimität der Entscheidungen als Basis für eine multilaterale Zusammenarbeit respektiert werden. In Norwegen hat die Unterstützung von Hilfswerken und internationalen Organisationen traditionell hohen Stellenwert. Unser Glaube an den Multilateralismus zeugt nicht von Naivität, sondern von nüchternem Idealismus. Dieser Idealismus hat seinen Ursprung in den Nachwirkungen eines brutalen Kriegs, der beinahe die Welt zerstört hätte. Die Gründer der Nachkriegs-Institutionen erkannten den Sinn von begrenzten oder gewichteten Mitgliedschaften innerhalb einer grösseren Institution. Aber sie bestanden auch darauf, dass an Entscheidungen, die alle Staaten betrafen, auch alle in geeigneter Weise mitwirken konnten. Nun ist nicht die Zeit, die Uhr zurückzudrehen und diese Selbstverständlichkeiten der internationalen Kooperation aufzuheben.

Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert. Der Geist des Wiener Kongresses, wo grosse Mächte sich versammelten, um die Welt und deren Grenzen neu zu definieren, hat keinen Platz mehr in der gegenwärtigen internationalen Gemeinschaft. Wenn die G-20-Kooperation dazu führen sollte, dass G-20-Entscheidungen der Mehrheit der Nichtmitglieder aufgezwungen werden, wird sich die G-20 bald schachmatt setzen. Die internationale Zusammenarbeit kann nur funktionieren, solange sie sich nicht selbst torpediert.