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Nord! Fridtjof Nansens Erbe – Wissenschaft im hohen Norden

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Published under: Stoltenberg's 2nd Government

Publisher: Ministry of Foreign Affairs

Jubiläums-Wanderausstellung, Berlin 13. Mai – 24. Juni 2011

Ich wünsche der Ausstellung viel Erfolg im In- und Ausland –und möchte hiermit auch dem akademischen Milieu in Norwegen und der Universität in Oslo zum 200-jährigen Jubiläum gratulieren, schreibt Aussenminister Jonas Gahr Støre in seinem vorwort.

2011 feiern wir, dass der Forscher, Humanist, Diplomat, Abenteurer und Globetrotter Fridtjof Nansen vor 150 Jahren geboren wurde. Bereits vor seinem 30. Lebensjahr war Nansen ein Nationalheld, und diese Position behauptete er bis zu seinem Tod im Jahr 1930. In einer ereignisreichen und bewegten Zeit, als Norwegen seinen Platz unter den Nationen der Welt suchte und eine eigene nationale Identität entwickelte, machte Nansen mit „Abenteuerlust und Tatendrang“ auf sich aufmerksam. Dies waren Eigenschaften, mit denen sich der junge Staat gerne identifizieren wollte.  

Als Diplomat nahm Nansen aktiv an der Gestaltung des modernen Norwegens teil, ein weiteres Beispiel seines vielfältigen Wirkens. Zu diesem Bild gehört auch der Mitmensch, der Mann, der auf seinen Reisen gegen Ende des Ersten Weltkriegs die Not und das Elend erlebte und dies in der Erinnerung behielt. Überall in Europa ist Nansen deshalb auch als Humanist bekannt, und als Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen machte er seinen Einfluss geltend, um Hunderttausenden von Flüchtlingen und Kriegsgefangenen zu helfen. Als er 1922 den Friedensnobelpreis erhielt, war dies nicht zuletzt eine Anerkennung für seinen Einsatz während der Hungerkatastrophe in Russland. 

Bereits als junger Mann hatte Nansen seine Fähigkeiten, sich in die Lage anderer zu versetzen und sich an neue Gegebenheiten anzupassen, unter Beweis gestellt. Als sozialanthropologischer Feldarbeiter hatte er unter den Inuit auf Grönland gelebt. Hier war er seiner Zeit weit voraus. Seine von Respekt geprägte Vermittlung ihrer Einsichten, Kenntnisse, technischen Fertigkeiten, Lebensbedingungen und kulturellen Errungenschaften, all das hat zu einer Haltung beigetragen, die zur Bewahrung und zum Schutz der Kultur und Lebensgrundlage der Urvölker beitrug und die heute die Staatenim Norden prägt. 

In unserer Zeit sind es sein Wissensdurst und seine Neugier hinsichtlich der Nordgebiete, die Nansen zu einem Vorbild, nicht zuletzt für die heutigen Forscher, machen. Denn obwohl Nansen von seinen Zeitgenossen als ein furchtloser Herausforderer des grönländischen Inlandeises und der weiten unbekannten Eisöde über dem Nordpolarmeer wahrgenommen wurde, waren diese kühnen Wagnisse durch sein Streben nach mehr Wissen bestimmt – und nicht nach Eroberungen, Reichtum oder Ruhm. Während der Expeditionen wurden wissenschaftliche Untersuchungen und Messungen durchgeführt, die neue und wertvolle Erkenntnisse über Tier- und Pflanzenwelt, Eisverhältnisse und Meeresströmungen, Meteorologie und Geologie in den arktischen Gebieten lieferten. 

Nansen suchte und erkannte Zusammenhänge zwischen Lebensformen und Umwelt, zwischen Klimaänderungen und Lebensbedingungen. Nansen kann daher – obwohl diese Begriffe zu seiner Zeit noch nicht verwendet wurden – als ein Vordenker für ein modernes und ökologisches Naturverständnis bezeichnet werden. Als Professor an der Universität Oslo war er ein ausgesprochener Befürworter einer stärkeren internationalen Kooperation im Bereich der Meeresforschung, und seine Arbeiten vermittelten Erkenntnisse über die Fischbestände in den nördlichen Meeresgebieten. 

Ausgangspunkt dieser Ausstellung ist daher Nansen und die Tatsache, dass sein wissenschaftlicher Einsatz dazu beigetragen hat, dass die norwegische Forschung vor allem in Bereichen wie Geophysik und Meeresbiologie eine Blütezeit erlebte. Wie wir in der Ausstellung sehen, trifft dies auch für die Forscher von heute zu, die sich mit Fragen bezüglich der Nordgebiete beschäftigen. Durch das Einbeziehen von vier bedeutenden Forschern aus vier zentralen wissenschaftlichen Institutionen Norwegens wird ein Bogen von der Pionierleistung Nansens zu den Fragestellungen unserer Zeit geschlagen. Seine Impulse leben weiter und sind eine Quelle der Inspiration, auch wenn wir heute über Satelliten und wissenschaftliche Methoden verfügen, von denen man früher nicht einmal träumen konnte. Und trotz größerer Erkenntnisse ist der Wissensbedarf heute kaum geringer als zu Nansens Zeit. 

Hinzu kommt Folgendes: Die Arktis, die früher aus globaler Sicht ein „Randgebiet“ war, steht heute immer mehr im Zentrum des internationalen Interesses. Ausschlaggebend dafür ist der Energiebedarf, der Ressourcenbedarf, der Bedarf an Erkenntnissen über die Klimaänderungen und über die Konsequenzen der Eisschmelze. Die Verwaltung der arktischen Meeresgebiete und des Kontinentalsockels obliegt den Nationalstaaten, die Anrainer der Arktis sind. Die Grenzen werden durch das internationale Seerecht und durch bilaterale Abkommen der Staaten geregelt. Die bestehenden Regelungen bilden eine solide Grundlage für eine vorhersehbare und längerfristige Ressourcenverwaltung sowie für den Schutz der Klima- und Naturbedingungen in dieser besonders sensiblen und verletzlichen Region. 

Die Nordgebiete sind seit 2005 der wichtigste strategische Schwerpunkt der norwegischen Außenpolitik und werden es auch künftig sein. 2006 legte die Regierung eine umfassende Nordgebiete-Strategie vor, die 2009 in dem Bericht „Neue Bausteine im Norden“ aktualisiert wurde. 2011 wird die Regierung dem norwegischen Parlament einen Bericht zur Nordgebiete-Politik vorlegen. Die übergeordnete Zielsetzung besteht seit jeher darin, mehr Fachkompetenz, Aktivität und Präsenz in den Nordgebieten zu schaffen und die Grundlage für ein nachhaltiges wirtschaftliches und soziales Wachstum in den kommenden Jahren zu legen. Eine gute Entwicklung in den nördlichsten Teilen des Landes macht uns glaubwürdig und ist ein guter Ausgangspunkt, um norwegische Standpunkte bezüglich der Zukunft der Nordgebiete international durchzusetzen. 

Was die Entwicklung im Norden vor allem vorantreibt, sind die Klimaänderungen, die eine verstärkte Aktivität des Menschen erfordern, die Verwaltung der reichen Naturressourcen in dieser Region, die Entwicklung in Russland und Fortschritte in den norwegisch-russischen Beziehungen. Das Übereinkommen über die Seegrenzen und die Zusammenarbeit mit Russland, das am 15. September 2010 in Murmansk unterzeichnet wurde, ist ein Meilenstein und zeigt, was in enger Zusammenarbeit mit unserem großen Nachbarn im Rahmen von langfristigen Verhandlungen auf der Grundlage des modernen Völkerrechts möglich ist. Die Festlegung der norwegisch-russischen Seegrenze bietet große Möglichkeiten für die gemeinschaftliche nachhaltige Verwaltung und Nutzung der Naturressourcen in der Barentssee und im Nordpolarmeer.

Die Nordgebiete-Politik der Regierung zeigt auf, wie die Menschen, wie Wissens- und Kompetenzzentren im ganzen Land dazu beitragen können, dass die nördlichen Gebiete sich in einem Klima weiterentwickeln, das von Frieden, Stabilität und Zusammenarbeit geprägt ist. Auf diese Weise stellen wir die Weichen für eine gute Klimapolitik, eine verantwortliche Ressourcenverwaltung und eine gesunde Wirtschaftsentwicklung, die allen Einwohnern der Region zugute kommen wird. Insgesamt führt dies auch zu höherer Sicherheit im Norden.

Dieses Engagement in den Nordgebieten ist somit Teil der modernen Gesellschaftsentwicklung. Für Norwegen und vor allem Nordnorwegen bietet dies die Möglichkeit eines neuen wirtschaftlichen Aufschwungs mit Ausgangspunkt in wissensintensiven Branchen und in enger Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern.

Das Engagement in den Nordgebieten ist eine nationale Aufgabe. Die norwegische Regierung kann zwar die Voraussetzungen für eine neue Entwicklung im Norden schaffen, aber die wirklich längerfristigen Ergebnisse müssen von der Wirtschaft, dem Kulturleben, den Kompetenzzentren und den Menschen selbst – sowie von allen Kooperationspartnern aus anderen Ländern – angestoßen werden. Seit der Vorstellung der Nordgebiete-Strategie sind hohe Beträge vor allem in Forschung und Ausbildung investiert worden. Norwegen will die Entwicklung in den Nordgebieten und in der Arktis weiterhin mitgestalten. Deshalb lautet unser Ziel, im Hinblick auf Wissen über diese Region führend zu sein.

Bei der Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen sehen wir viele Fragestellungen, auf die Nansen bereits aufmerksam machte, und wir lassen uns von seinen Gedanken über das Gleichgewicht zwischen klimatischen Verhältnissen, Ressourcen und der Besiedlung inspirieren. Die Bewohner der Arktis sind die wichtigste Ressource dieser Region. Ihre Erfahrungen und Lebensweisen bilden den Ausgangspunkt für neue Erkenntnisse über die Region.

Forschung, die auf internationaler Zusammenarbeit und Offenheit aufbaut, ist ein Schlüssel für diese Arbeit. Praktisch überall auf der Welt stoßen mit der Arktis verbundene Fragen auf großes Interesse. Ein Beispiel: Zum Abschluss des Internationalen Polarjahres (IPY) 2010 trafen sich 2.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 50 Ländern in Oslo. Norwegen nimmt bei dieser Arbeit eine führende Rolle ein und zählt in Bezug auf die Polarforschung zu den vier bis fünf wichtigsten Nationen. Das liegt auf der Hand, da Norwegen eine Pionierstellung auf dem Gebiet der Polarforschung einnimmt und Territorien und Verantwortung für die Verwaltung von Meeresgebieten an beiden Polen hat.

Die Zusammenarbeit mit unserem Nachbarland Russland im Norden ist diesbezüglich ein Kernpunkt. Das Leben von Fridtjof Nansen war eng mit Russland verbunden – er war sehr fasziniert von diesem Land. Er war nicht nur für Norweger, sondern auch für viele Russen eine Quelle der Inspiration. Es ist daher folgerichtig, dass diese Ausstellung an mehreren Orten in Russland gezeigt wird, zumal in einem Jahr, in dem der 300. Geburtstag des russischen Universalgelehrten und Dichters Michail Lomonossow aus Archangelsk gefeiert wird, der auch Polarexpeditionen organisierte. Die naturwissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und Norwegen ist zentral bei den Herausforderungen, die sich heute in der Schifffahrt, der Fischerei und der Offshore-Tätigkeit in der Region ergeben.

Die Inselgruppe Spitzbergen (in Norwegen das Verwaltungsgebiet Svalbard) ist zu einem Treffpunkt für die internationale Forschung geworden. In Ny-Ålesund sind Forscher aus aller Welt tätig. Sie sind ein Beweis für das internationale Interesse und den Bedarf, vor Ort zu sein und zur Erforschung der großen globalen Klimaherausforderungen beizutragen. Die Arktis ist eine Region, in der die Auswirkungen der Klimaänderungen aus nächster Nähe beobachtet werden können. Der ehemalige amerikanische Vizepräsident Al Gore und ich haben 2009 auf der Klimakonferenz in Kopenhagen gemeinsam einen Bericht über das Abschmelzen des Eises vorgelegt. Die Konsequenzen sind eine stärkere globale Erwärmung, wodurch der Wasserpegel in den Weltmeeren steigt und sowohl das tropische Klima als auch die Bedingungen für die Landwirtschaft und andere Erwerbszweige in vielen Ländern beeinflusst werden.

Diese Änderungen sind dramatisch und stellen die Weltbevölkerung vor große Herausforderungen. Gleichzeitig ergeben sich neue Möglichkeiten – wie beispielsweise die Öffnung des Seewegs nach Asien entlang der russischen Küste. Die Fracht von Erz aus Sør-Varanger nach China entlang dieser Route würde bei Treibstoff und Reisezeit wesentliche Einsparungen mit sich bringen. Gegenwärtig ist diese Route aufgrund der Eisverhältnisse und des Klimas noch unsicher, aber auf längere Sicht sind neue Verkehrswege und der Handelsaustausch im arktischen Gebiet möglich. Die Erwartungen hinsichtlich der Erdöl- und Erdgasressourcen in diesem Gebiet sind ein weiterer Grund für das wachsende internationale Interesse für die Region. Die Herausforderung, die Lebensbedingungen für die wichtigen Fischbestände in der Barentssee zu bewahren und gleichzeitig eine vernünftige Nutzung der Erdöl- und Erdgasvorkommen zu sichern, ist eine wichtige Dimension. Die gute Zusammenarbeit mit Russland – die unter anderem zu einer vorbildlichen Verwaltung des Kabeljaubestandes in der Nordost-Arktis geführt hat – ist ein zentraler Ausgangspunkt. Die klimatischen Verhältnisse stellen sehr hohe Anforderungen an technologische Lösungen. Es bedarf intensiver Forschung und neuer Erkenntnisse in vielen verschiedenen Bereichen. Auch wenn die Länder, unter deren Verwaltung diese Gebiete stehen, über eine lange Erfahrung in der Offshore-Tätigkeit und in verwandten Bereichen verfügen, ist der Investitionsbedarf hier höher als bei der Erdölund Erdgasgewinnung unter anderen Bedingungen.

In diesem Umfeld müssen wir gute gesellschaftliche Lebensbedingungen für die Einwohner entwickeln. Wir werden dabei die Erfahrungen zugrunde legen, die von all denen gemacht worden sind, die im Lauf der Geschichte in arktischen Gebieten gelebt und gearbeitet haben, und zwar in Harmonie mit der empfindlichen Natur.

Die Ausstellung über den Polarforscher Fridtjof Nansen, sein Erbe und seine Nachfolger macht deutlich, welche Rolle Wissen und Einsicht für die nachhaltige Verwaltung der Nordgebiete spielen. Zusammen mit unseren Nachbarn und anderen Partnern tragen wir die Verantwortung dafür, dass die Ressourcen den Menschen zugute kommen, und dass unsere Nachfahren nicht nur in den Geschichtsbüchern lesen können, wie man im hohen Norden im Einklang mit der Natur lebte und überlebte. Die Naturwissenschaft hat uns gelehrt, wie verletzlich unsere eigene Lebensgrundlage ist. Auch wenn wir heute über modernste Messsysteme und Kommunikationssatelliten verfügen, sind „Abenteuerlust und Tatendrang“ – um die Worte Nansens zu gebrauchen – weiterhin gefragt, um Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu finden.

Wir begehen 2011 mehrere Jubiläen – 150 Jahre seit der Geburt Fridtjof Nansens, 100 Jahre seit Roald Amundsen den Südpol erreichte und 75 Jahre seit der Eröffnung des Frammuseums in Oslo. Es fällt häufig leicht, nur die mythenumwobenen Seiten der großen Polarfahrer zu sehen, sie als Helden und Abenteurer mit großen persönlichen Leistungen - im Extremsport der damaligen Zeit - aufzufassen. Die Polarfahrer waren aber auch Entdecker, die neues Wissen, neue Einsichten und neue Horizonte schufen. Sie fanden die Grundsteine, die uns noch heute als Fundament dienen.

Ohne den Respekt vor den Gesetzen und Launen der Natur oder ohne wissenschaftlichen Ansatz, sorgfältige Vorbereitungen und Berechnungen, ohne Präzision in allen Details, ohne Versuche, Erprobungen und Irrtümer wäre wenig erreicht worden. In der Arktis und in der Antarktis hat sich unser Hauptaugenmerk in den letzten hundert Jahren nur wenig geändert: anfangs ging es vor allem um „oberflächliche“ Erkundung, jetzt steht die wissenschaftliche Erforschung im Mittelpunkt. Dabei handelt es sich nicht um verschiedene Dinge, sondern nur um verschiedene Phasen einer Entwicklung.

Die moderne Forschung ist von Natur aus international und legt die Grundlage für eine noch engere länderübergreifende Zusammenarbeit, um die Herausforderungen in der Arktis und in der Antarktis zu bewältigen und die Möglichkeiten zu nutzen. Gemeinsam wollen wir die wissenschaftlichen und humanistischen Ideale fortführen, die einst den Namen von Fridtjof Nansen in der Welt bekannt gemacht haben. Gemeinsam wollen wir uns von ihm inspirieren lassen und seinen Spuren folgen.

Ich wünsche mir, dass alle Besucher dieser Ausstellung nicht nur die Vielseitigkeit von Nansen mit Erstaunen wahrnehmen, sondern auch über die wichtigen Fragen in Bezug auf die Nordgebiete, die von der Wissenschaft damals wie heute gestellt werden, reflektieren. Nansen ist ein Vorbild in seinem Interesse für die Natur als Grundlage des menschlichen Lebens, als Grundlage einer vielfältigen Pflanzen- und Tierwelt. Nansen hat uns gezeigt, dass man dem Meer seine Geheimnisse entlocken kann. Das harmonische Gleichgewicht der Natur ist auch für uns Menschen unerlässlich. Erleben Sie NORD! Fridtjof Nansens Erbe aus dieser Perspektive.

Ich wünsche der Ausstellung viel Erfolg im In- und Ausland – und möchte hiermit auch dem akademischen Milieu in Norwegen und der Universität in Oslo zum 200-jährigen Jubiläum gratulieren!